Gute Manieren

Die Höflichkeit, die Liebenswürdigkeit, die Gewandtheit und ihre verwandten Tugenden sind kleine Schwestern anderer wichtigerer Tugenden. Und die Familie ist der Ort, wo man sie am besten erlernt, wie alt man auch sein mag.

Bedenkt man, wie sich die Umgangsformen im Lauf der Zeit verändert haben, oder wie sie sich von Region zu Region unterscheiden, könnte man leicht zum Schluss kommen, es handle sich dabei um eine reine Gewohnheit, die man ändern und sogar nach Lust und Laune übertreten kann. Trotzdem scheint das Wesentliche im Bereich der Höflichkeit unverändert zu bleiben. Alle von uns haben schon gehört wie jemand sagte: „An seinem Benehmen merkt man, dass er aus einer guten Familie kommt“; oder „Was für ein gut erzogenes Kind!“ Und wenn so etwas über uns gesagt wurde, haben wir uns vermutlich geschmeichelt gefühlt.

Die menschlichen Tugenden, auf die sich die übernatürlichen stützen, sind die Grundlage der Gebräuche und Gewohnheiten der Völker, die üblicherweise Höflichkeit oder Erziehung genannt werden. Vielleicht kann man nicht unbedingt sagen, die Umgänglichkeit, der Charakter eines Menschen, mit dem es leicht fällt zusammen zu sein und sich zu unterhalten, sei die wichtigste Tugend. Diese Tugend bewirkt jedoch ein Gefühl der Anteilnahme, der Herzlichkeit, des Verständnisses, das schwer erklärbar ist oder das sich durch andere Verhaltensweisen ersetzen lässt.

Die Höflichkeit drückt etwas aus, ohne das es schwer wäre in der Gesellschaft zu leben; sie lehrt uns menschlich, anständig zu sein. Die Freundlichkeit, die Umgänglichkeit, die Höflichkeit und die mit ihnen verwandten Verhaltensweisen sind die kleinen Schwestern anderer, größerer Tugenden. Das Besondere an ihnen ist jedoch, dass ohne sie das Zusammenleben unerträglich wäre. Mehr noch, ein barscher und unhöflicher Mensch schafft es tatsächlich nur mit Mühe, die Nächstenliebe zu leben.

Auf Jesus schauen

Irgendwann in unserem Leben wird es vermutlich vorgekommen sein, dass wir uns die Frage gestellt haben, nachdem wir uns nicht ganz richtig verhalten hatten oder ein wenig ungerecht gewesen sind: „Was haben die anderen wohl über mich gedacht?“ oder „Warum habe ich das bloß getan?“ oder „Was für einen schlechten Eindruck habe ich hinterlassen!“

Im Evangelium gibt es eine Stelle, die zwei gegensätzliche Haltungen beschreibt: eine ist die eines strenggläubigen Menschen der damaligen Zeit und die andere die einer Sünderin1. Simon, der Pharisäer, hat ein Gastmahl vorbereitet, das der Bedeutung des Eingeladenen, der für einen Propheten gehalten wurde, entsprach. Sicherlich hat er vorher an die Sitzordnung gedacht, an die Bedienung, an das Geschirr, das er aufdecken sollte, an die Zusammenstellung der Speisen. Er wird sich auch überlegt haben, welche Themen er beim Gespräch mit dem Meister gerne anschneiden würde. Er wollte vor den Geladenen und vor seinem Ehrengast gut dastehen. Allerdings hat er auf einige Kleinigkeiten vergessen, die dem Herrn abgegangen sind.

Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. Du hast mir (zur Begrüßung) keinen Kuss gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt.2

Auf den ersten Blick scheint es sich um unbedeutende Dinge zu handeln. Aber Jesus, der wahrer Gott und vollkommener Mensch ist, vermisst sie. Der heilige Josefmaria hatte die Menschwerdung des Sohnes Gottes sehr eingehend betrachtet und erwähnt, sie habe sich auch durch Gesten geäußert, die lieblosen Augen entgehen könnten. Er legte diese Schriftstelle folgendermaßen aus: Jesus Christus wirkt das Heil, nicht die Zerstörung unserer Natur. Und wir lernen von Ihm, dass es unchristlich ist, den Mitmenschen, ein Geschöpf Gottes, nach seinem Bild und Gleichnis gemacht, geringzuschätzen (vgl. Gen1,26).3

Hier finden wir hilfreiche Hinweise für diejenigen, die die sehr unterschiedlichen Wege des Lebens heiligen und sich auf ihnen heiligen wollen. Vor allem dort, wo die menschliche Natur, mit ihren Veranlagungen und Fähigkeiten, durch den Herrn erhöht wurde. Es gibt nichts, so klein und unbedeutend es scheinbar ist, das nicht Gott dargebracht werden kann. Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: tut alles zur Verherrlichung Gottes!4 Alle ehrbaren Tätigkeiten sind bereits erlöst worden; deshalb können sie alle, sofern sie mit Ihm verbunden ausgeführt werden, miterlösend sein.

Die Tugenden sind etwas sehr persönliches, etwas das zum Menschen gehört. Es lässt sich aber leicht feststellen, dass der Mensch kein „Einzelstück“ ist. Unser Leben steht in einer Beziehung zur Welt. Wir leben mit anderen Menschen zusammen. Wir sind unabhängig und hängen gleichzeitig von den anderen ab: wir helfen oder wir schaden einander, denn wir sind alle Glieder einer Kette.5

Auch die Tugenden besitzen diese gesellschaftliche Ausrichtung. Sie sind nicht da, damit wir persönlich glänzen, um den Egoismus zu schüren, sondern, genau genommen, für die anderen. Warum fühlen wir uns unter einigen Menschen so wohl und unter anderen vielleicht weniger? Vermutlich weil uns der da zuhört, weil wir sehen, dass er uns versteht, weil er sich keine Eile anmerken lässt, weil er uns beruhigt, weil er sich nicht aufdrängt, Vorschläge macht, uns achtet, diskret ist, die richtigen Fragen stellt.

Wer es versteht, mit den anderen zusammenzuleben, mit ihnen gut auszukommen, mitfühlend, entgegenkommend zu sein und Frieden zu verbreiten, ist drauf und dran tugendhaft zu sein. Jesus lehrt uns, dass sich das gute Zusammenleben verschlechtert, wenn bestimmte Voraussetzungen fehlen. Die Höflichkeit ist vielleicht die beste Form des Auftretens. Aber jene, die wir Tugenden des Umgangs nennen könnten, sind die Vorbedingung und Unterlage, auf der das Schmuckstück der Nächstenliebe befestigt wird.

Die Tischsitten

Es kommt häufig vor, dass sowohl der Vater als auch die Mutter außer Haus arbeiten, und das trifft auf immer mehr Gesellschaftsschichten zu. Um für die Kosten des Haushalts aufkommen zu können, sind diese zwei Einkommen notwendig. Die unterschiedlichen Arbeitszeiten und die Entfernungen machen es der Familie oftmals schwer, gleichzeitig zuhause zu sein. Das gilt besonders für die großen Städte. Und viele Mütter sagen sich: „Zum Glück können die Kinder in der Schule essen“.

Früher, als es leichter war gemeinsam zu essen, war dieses Beisammensein in der Familie auch nicht immer eitel Wonne gewesen, weil die Kinder manchmal miteinander stritten oder sich über das Essen beschwerten und die Eltern sie zurechtwiesen ... Das geschieht heute mehr oder weniger genau so: die Umstände haben sich im Grunde genommen kaum geändert. Aber heute wie damals muss man die Gelegenheiten nützen, die das Leben bietet, und darauf vorbereitet sein, die unangenehmen Zwischenfälle in gute Gelegenheiten zur Erziehung zu verwandeln.

Wie oft haben wir zum Beispiel daran gedacht, das tägliche Abendessen oder das Mittagessen an den Wochenenden in ein Familienbeisammensein umzugestalten? Es gibt Studien, die nachweisen, dass das Essen in der Familie für Burschen und Mädchen das Wichtigste für sie sei.

Mit den Menschen beisammen zu sein, die uns lieben, sich ihnen anzuvertrauen, von ihnen verstanden zu werden, sind Weisen zu erziehen, zu lernen, für die anderen da zu sein. Das vertieft die Beziehungen unter den Familienmitgliedern, bietet den Eltern unbeschwerte Zeiten, um die Kinder besser kennen lernen und mögliche Schwierigkeiten aus den Weg zu räumen.

Es gibt viele kleine Dinge der Erziehung, auf die man aufmerksam machen muss: „Sei so gut und gibt mir das Salz“. „Hast du dir vor dem Essen die Hände gewaschen?“ „Sitz aufrecht und überkreuze nicht die Beine, wenn du isst“. „Kannst du bitte deinem Bruder helfen, den Tisch aufzudecken (oder das Geschirr abzuräumen)?“ „Mit Brot wirft man nicht herum!“ „Nimm die Gabel richtig in die Hand!“ „Schneide das Fleisch in kleinere Stücke und sprich nicht mit vollem Mund!“ „Deine Augen waren wieder größer als der Mund!“ „Was du dir auf den Teller genommen hast, wird gegessen, auch wenn du es nicht mehr magst“. „Der Suppenlöffel gehört in den Mund, nicht der Mund in den Teller!“ „Wisch Dir vor dem Trinken den Mund ab und schlürfe nicht!“ „Der Ellbogen hat auf dem Tisch nichts verloren!“

Manche Hinweise sind von Ort zu Ort verschieden, andere - ziemlich viele – sind allgemein üblich. Einige klingen vielleicht negativ; es ist auch nicht notwendig alle anzubringen oder sie ständig zu wiederholen. Wenn wir in ihnen jedoch Fingerzeige sehen, weisen sie auf die Achtung hin, die wir den anderen zeigen sollten. Es sind bloß Kleinigkeiten, die ein gutes Benehmen, Höflichkeit und Sauberkeit erkennen lassen. Sie zeigen die Sorgfalt in Bezug auf manche Dinge, die vielleicht dem einen oder anderen lästig sein könnten, wenn sie aus Versehen nicht beachtet werden.

Bei den Mahlzeiten lassen sich ganz grundsätzliche Dinge lernen: etwa wie viel man sich selbst auf den Teller nimmt und dabei berücksichtigt, dass noch andere am Tisch sind; oder zwischen den Mahlzeiten nicht zu essen und dadurch das zu schätzen, was man mir gibt. Andererseits sind die gemeinsamen Mahlzeiten nicht nur ein gesellschaftliches Ereignis. Sie sind auch Teil der Kultur im strengen und edelsten Sinn des Wortes.

Die Kultur hängt, wie viele Autoren hingewiesen haben, mit dem Kult zusammen. Gott in geschuldeter Weise zu ehren gehört zur Natur des Menschen. Er schafft auch für sich selbst Kultur in Form von Zeremonien und Einrichtungen. Was für eine wunderbare Form der Gottesverehrung ist es doch, die Zeremonie der Mahlzeit mit einem Gebet zu beginnen und den Segen Gottes für die Familie und die Gaben zu erbitten, die wir empfangen werden; dem Herrn für das tägliche Brot zu danken und für die zu beten, die es zubereitet haben und für all jene, die in Armut leben. Das Tischgebet ist eine Gewohnheit, die uns hilft, uns innerlich bewusst zu werden, dass Gott ständig bei uns anwesend ist; für das zu danken, was wir bekommen, und uns im täglichen Miteinanderleben um die anderen zu kümmern.

Den guten Ton bewahren

Bei Tisch und im familiären Zusammensein werden die Kinder für das Leben in der Gesellschaft vorbereitet. Es zeigt sich immer deutlicher, dass der Slogan „alles ist erlaubt“ sich keineswegs mit der Wirklichkeit deckt. Ein Kollege, den ständig alles stört und der alles in Frage stellt, ist schwer zu ertragen. Jemand, der sich nicht gut benimmt, wenn er mit anderen Leuten etwas zu tun hat, zeigt wenig Achtung vor sich selbst und für die anderen und erweckt kein sehr großes Vertrauen, zumindest auf den ersten Blick. Sich richtig auszudrücken, zu wissen wie man in ein Gespräch einsteigt oder abzuwarten, bis man an der Reihe ist, zu lernen standesgemäß gekleidet aufzutreten sind Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Lebens.

Die Manieren und nicht so sehr die Mode sind es, die uns vom unkultivierten Verhalten wegbringen. Ob jemand Manieren hat, ob er Anstand besitzt, zeigt sich an der Zurückhaltung und Ausgeglichenheit, beziehungsweise an der Fähigkeit übertriebene oder gegensätzliche Standpunkte in Einklang zu bringen; und weniger daran, dass er sich nach der letzten Mode richtet.

Die Manieren gehören zu unserer Persönlichkeit. Es ist zum Beispiel wichtig zu lernen, sich dem jeweiligen Anlass entsprechend zu kleiden. Die Eleganz beruht nicht so sehr darauf eine Garderobe zu haben, die sich aus teuren oder Markenkleidungsstücken zusammensetzt, sondern vielmehr eine saubere und gebügelte Kleidung zu tragen.

Und genau das lernen die Kinder zuhause, wenn sie sehen, wie ihre Eltern stets elegant und mit Takt auftreten. An einem Gala-Diner teilzunehmen ist nicht das gleiche wie sich mit Freunden zu treffen oder im vertrauten Familienkreis beisammen zu sein. Es ist auch nicht das gleiche, in irgendeiner beliebigen Aufmachung im Haus herumzugehen oder nach dem Aufstehen kurz einen Bademantel zu tragen.

Die Familientreffen – dazu gehören auch die Mahlzeiten – geben den Kindern außerdem die Möglichkeit, von ihren Erlebnissen in der Schule zu erzählen; und den Eltern, eine passende Bemerkung anzubringen oder auf ein Kriterium für eine bestimmte Verhaltensweise hinzuweisen. Es sind Gelegenheiten, gemeinsam einem Hobby nachzugehen, sich für Bergwanderungen oder für die Geschichte zu begeistern, oder den Kindern die fesselnde Kunst des Erzählens beizubringen.

Wir können Ausflüge und Ausstellungsbesuche planen, und ihnen nach und nach Dinge sagen, die sich auf die Gebräuche der Familie und der Religion, oder des Vaterlandes und der Kultur beziehen. Die Kinder lernen zu reden, ohne laut zu werden oder zu schreien, und was noch viel wichtiger ist, sie üben das Zuhören und sie gewöhnen sich daran, die Gespräche nicht zu unterbrechen, beziehungsweise ihre Standpunkte oder Wünsche nicht aufzudrängen.

In der Familie kümmern wir uns alle anhand vieler kleiner Aufmerksamkeiten um die anderen. Niemand kommt schlecht gekleidet daher, es wird auch keinen geben, der nicht mit einem Mindestmaß an Anstand isst. Vor allem die Mütter sind es, die sich an den Geburtstagen überlegen, was das Geburtstagskind gerne isst. Man reicht die Schüssel weiter und achtet darauf, was der andere gerne hätte. Man bietet den anderen das Brot oder das Wasser an, bevor man sich selbst etwas nimmt. Man dankt für die kleinen Dienste, denn das Danken führt zur Verbundenheit und die Verbundenheit zur Freude und zum Lächeln.

Nach einem guten Essen im Familienkreis sind wir um vieles zufriedener. Es geht hier nicht bloß um die physiologische Zufriedenheit eins gesunden Tieres6, sondern wir sind froh, weil wir mit denen zusammen waren, die wir am innigsten lieben. Wir sind moralisch und persönlich bereichert worden.

Die hier besprochenen Verhaltensweisen helfen, unser Innenleben zu entfalten, an Gott und an die anderen zu denken. Eine reife Frau, ein reifer Mann steht auf dem Boden der Wirklichkeit. Deshalb sind sie mit dem, was sie haben, zufrieden und ganz glücklich damit. Sie haben gelernt, sich selbst zu achten und Herren ihrer Seelen und ihrer Leiber zu sein. Sie verhalten sich immer natürlich, klug und maßvoll. Sie stehen voll Vertrauen zu ihren Freunden, sind beharrlich in ihrer Arbeit und halten an den selbst gesetzten Zielen fest, weil sie fähig sind, mehr zu geben als zu empfangen. Sie haben gelernt, großzügig zu sein und stehen jeden Morgen strahlend auf wie die Sonne, die exultavit ut gigas ad currendam viam – die frohlockt wie ein Held und (...) ihre Bahn (läuft)7, mit einem wohltuenden Humor, der allem, was er berührt, Würde verleiht.

1 Vgl. Lk 7,36 ff.

2 Lk 7,44-46.

3 hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 73.

4 1 Kor 10,31.

5 hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 76.

6 Vgl. hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 659.

7 Vgl. Ps 19,6.